Mahatma Gandhi wollte mit diesem Satz kaum sagen, dass nur sehr selbstbewusste Menschen vergeben können, sondern eher dass es eine besondere Art der Willensleistung braucht, um Menschen zu verzeihen. Im Zeitalter von «hating», «dissing», «#dumachstwasfalsch», wie auch im Kontinuum von politischer Polarisierung zu übersteigerter politischer Korrektheit, erscheint mir diese Charaktereigenschaft umso wichtiger zu werden.
‹Vergässä und vergäh› war als Kinder unser Leitmotto auf dem Spielplatz. Uns war bewusst, dass in der Hitze des Gefechts Rempler, Schürfungen oder auch mal ein böses Wort dazugehörten. Diese Worte oder diese Haltung beruhigten die Gemüter schnell wieder – man brauchte ja jeden für Räuber und Poli oder Völkerball. Nun, als längst Erwachsene, vergeben und vergessen wir immer noch so leichten Herzens?
Bleiben wir in unserem nächsten Umfeld. Wie steht es um die Versöhnungsbereitschaft, wenn Nachbarn sich wegen Bäumen oder Lärm in den Haaren liegen oder sich Erben jahrelange Grabenkämpfe liefern? Häufig hinterlassen diese Auseinandersetzungen Wunden, die kaum mehr heilen. Weil keiner dem andern vergeben mag.
In der Positiven Psychologie wird ein Schwergewicht auf stärkende Denkhaltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen gelegt. Bezüglich der Zeitmodalität Vergangenheit sind Themen wie Stolz, Genugtuung, Dankbarkeit, Zufriedenheit, Erfüllung, Behagen oder eben Vergebungsbereitschaft wichtig für den Beitrag zu einer positiven Grundstimmung im Leben. Bitterkeit, Hass, Unversöhnlichkeit oder rachsüchtige Wut wirken sich negativ aus. Der Schlüssel zum Verständnis unserer vergangenheitsbezogenen Gefühle ist, dass alle Emotionen über die Vergangenheit durch Denken und Deuten ausgelöst werden. Damit haben wir es über unsere Willensleistung in der Hand, wie wir die Vergangenheit interpretieren und welche Gefühle wir fördern wollen.
Der Prozess des Vergebens beispielsweise beinhaltet die Veränderung eigener Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen gegenüber Menschen, deren Worte oder Handlungen als verletzend erlebt wurden. Vergebungsbereitschaft heisst, Menschen eine zweite Chance zu ermöglichen und einen Neuanfang zu wagen. In unserem Erwachsensein stellt die Beziehung zu den eigenen Eltern für viele eine Herausforderung dar. Sinnvoll und von grosser Wirkung ist es, den Eltern ihre Fehler zu verzeihen. Eltern handeln meistens mit guten Absichten und versuchen ihr Bestes zu geben. Das reicht nicht immer. Weil Erziehen so schwierig ist. Auch wenn gefühlt oder tatsächlich grosses Unrecht geschehen ist, kommt meine Seele besser im Leben zurecht, wenn ich Gründe für das Fehlverhalten finde und verzeihe. Das hat nichts mit Gutheissen zu tun. Ich befreie mich von einer persönlichen Last, indem ich vergebe und mich damit vom Geschehenen löse. Ein erneutes Annähern wird somit möglich. «Du kannst den Täter durch Nicht-Vergeben nicht treffen, aber dein Vergeben kann dich selbst befreien.», sagt der Spezialist auf dem Gebiet der Vergebungsforschung, Psychologieprofessor Everett Worthington. Vergeben heisst nicht ausradieren, sondern bedeutet die Umetikettierung einer Erinnerung.
Warum ist es so schwierig zu vergeben? Vergeben wird häufig als ungerecht empfunden. Strafe muss sein, Rache ist süss und das Opfer hat Mitgefühl verdient. Wie geht nun Vergeben, eine der schwierigsten Interventionen der Positiven Psychologie? Das Wichtigste vorweg: Es ist ein innerer Prozess. Am Ende kann ich im stillen Dialog dem Anderen sagen, dass ich ihm vergebe. Selten ist es sinnvoll, jemanden persönlich zu sagen: «Ich vergebe dir.» Oft ist sich die andere Person gar keiner Schuld bewusst. Oder wenn sie es ist, kann die direkte Konfrontation sogar kontraproduktiv wirken, wie beispielsweise beim Eingeständnis eines Seitensprungs. Wer fremd geht, es gesteht oder erwischt wird, weiss sich in der Schuld. Wird ihm oder ihr vom Partner mit obigem Satz vergeben, stellt sich der Vergebende unbewusst über den andern. Die Augenhöhe geht verloren. Der Betrogene hat etwas zu gut, der andere schuldet. Dies führt zu Distanz oder langfristig sogar zur Abwendung. Der bessere Weg ist, nach der ersten Enttäuschung und Wut, Gründe für das Verhalten des Untreuen zu suchen. Ist die Liebe noch da und sind beide zu Verhaltensänderungen bereit, reicht ein inneres Vergeben. Daraus entsteht eine positive Energie, die sich auf den Partner überträgt und der Beziehung neue Kraft verleiht oder dann zu einem fairen Abschluss führt.
Vergeben ist neben Dankbarkeit die wichtigste Stärke im Umgang mit der Vergangenheit. Wir Menschen können über unsere Denkhaltung bestimmen, in welchem Licht wir das Vergangene sehen wollen. Der berühmte Psychologe Martin Seligman geht so weit zu sagen: «Die eigene Lebensgeschichte unter dem Aspekt der Vergebung neu zu schreiben, schwächt die Macht der schlechten Ereignisse, die uns mit Bitterkeit erfüllen. Und dies kann tatsächlich aus schlechten Erinnerungen neutrale oder sogar gute machen.»